Zu echt, um schön zu sein

Zur Semantik von Materialoberflächen in der Architektur

Publiziert in: Farbraum Stadt, 
Jürg Rehsteiner, Lino Sibillano & Stefanie Wettstein (Hg.), Kontrast Verlag,  Zürich 2010

Immer wenn wir eine spezifische Oberfläche, eine Fassade betrachten, sehen wir „Material“. Aber nicht immer nennen wir das Gesehene so. Handelt es sich zum Beispiel um eine Farbschicht, einen feinen Putz oder eine Kunststoff­verkleidung sprechen wir von Beschichtungen. Auch bei diesen werden Materialien verwendet – Pigmente, feiner Sand, Kunstharze – ihre Korngrösse ist jedoch so klein, ihre Teilbarkeit so beliebig, dass sie sich ohne Widerstand auf jede bestehende Form auftragen lassen. Von Materialoberflächen reden wir hingegen dann, wenn wir auf Grund einer Erscheinung davon ausgehen, es handle sich um ein erfülltes, massives Volumen. Die sichtbare Struktur an der Oberfläche lässt auf deren Anordnung innerhalb des Körpers schliessen: Jeder Schnitt parallel zur Oberfläche würde ein ähnliches Strukturbild ergeben. Oft sind dies Materialien, die zwar nicht in dieser Form aber in dieser Zusammen­setzung in der Natur vorkommen. Die geschnitten, gespalten, gesägt werden, um sie schliesslich zu einem Haus zu formen. Die Materialoberfläche gewährt uns „Einsicht“ins Innere eines Körpers, auch wenn sie nicht transparent ist. Verkleidungen weisen nur eine begrenzte Schichtstärke auf, übernehmen keine tragende Funktion und zeichnen nur die Form ihres Trägers nach, mal präziser, mal undeutlicher. Immerhin erkennen wir die Beschichtung als solche, erleben dieses haptische Verstummen eines Körpers und schliessen nicht etwa auf einen erfüllten Farbkörper, nur weil dessen Oberfläche mit Farbe bestrichen ist. Ohne also selbst zum Material zu werden, reduziert die Beschichtung einen Körper auf dessen Form. 

Ganzer Text